In den Wochen dieses Frühjahrs jährt sich für die Grafschaft Glatzer zum 75. Mal die Vertreibung aus der Heimat und die Ankunft im neuen, unbekannten Lebensumfeld. Die Bewohner der Stadt Glatz, zu denen auch die Familie meiner Mutter gehört, mussten Anfang März ihren Wohnort verlassen und kamen nach einer mehrtägigen Fahrt in Viehwaggons im nordwestdeutschen Bereich in der Umgebung von Osnabrück an. Etwa sechs Wochen nach der Ankunft, am 21. April 1946, einem sehr späten Ostertermin, wurde am Ostersonntag das Fest der Auferstehung Christi gefeiert.
Ich stelle mir vor, dass die Vertriebenen nach den schweren Erfahrungen der vergangenen entbehrungsreichen Wochen und Monate den Weg Jesu in der Karwoche, seine Entäußerung und Erniedrigung am Kreuz, in besonders eindrücklicher Weise mitvollzogen haben und sich im leidenden Herrn selbst haben erkennen können.
Mit welchen Gefühlen haben die Grafschaft Glatzer an ihren neuen Wohnorten wohl die Karwoche und das Osterfest gefeiert? Sie mussten nicht nur ihr neues Lebensumfeld kennenlernen, auch ihre kirchliche und gottesdienstliche Heimat hatten sie verloren und mussten in der Fremde erst heimisch werden. Das Kirchengebäude am neuen Wohnort war ihnen noch fremd, in der Regel in einem anderen Stil gebaut und ausgeschmückt; sie mussten sich darin erst ihren Platz suchen. Häufig mussten sie weite Wege zur Messfeier auf sich nehmen, vor allem in den mehrheitlich evangelisch geprägten Gegenden. Manche Lieder im Gottesdienst waren ihnen wahrscheinlich erst einmal fremd, ebenso wie Osterbräuche in ihrem neuen Lebensumfeld.
Mit der Erfahrung des totalen Verlustes, aller Sicherheit und Geborgenheit, häufig auch dem Verlust geliebter Menschen, blickten sie auf den Gekreuzigten. Es ist ihnen danach sicher nicht leichtgefallen, die jubelnden und triumphalen Osterlieder mitzusingen. Nicht schon am dritten Tag, sondern erst ganz langsam konnten mit zunehmendem Einleben am neuen Ort, dem Entstehen neuer Kontakte und wachsender Anerkennung auch persönliche Ostererfahrungen entstehen. Sie konnten spürbar werden im gegenseitigen Zusammenhalt unter den Vertriebenen und in der Bereitschaft zu Vergebung und Versöhnung. Bereits im Juli 1946 fand schließlich in Emsbüren die erste gemeinsame Wallfahrt der Grafschaft Glatzer statt – für alle, die dabei waren, mag das eine österliche Erfahrung neuen Lebens gewesen sein.
75 Jahre später scheint uns in der Corona-Pandemie die Fastenzeit nun schon viel länger gedauert zu haben als seit dem Aschermittwoch. Menschen, die in Krankenhäusern, zu Hause oder in Senioreneinrichtungen das Alleinsein besonders stark spüren, können sich in die Verlassenheit Jesu intensiv einfühlen. Die Möglichkeit der Impfung gegen das Virus wird ja noch nicht gleich zu befreienden Ostererfahrungen führen.
Den Weg Jesu durch seinen Tod in die Auferstehung hinein mitzugehen, ist damals wie heute ein Weg des Vertrauens und der Hoffnung. Ich wünsche Ihnen, dass Sie an diesem Osterfest spüren können, dass der auferstandene Herr Ihnen in allen Situationen nahe ist und die Erfahrung neuen Lebens schenkt!
Ihr Marius Linnenborn
Präses des Heimatwerkes Grafschaft Glatz
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